Stabil sieht sie aus, die Stahlplattform.
Der Skywalk.
Aber ich hätte besser einen Poncha getrunken.
So wie es am Lokal inseriert war.
Aber da wusste ich ja noch nicht, was 580 Meter für mein Schwindelgefühl, für meine Magennerven, bedeuten würden.
Ich könnte noch umkehren, denn der Name dieses Kaps übersetzt heißt „Kap der Umkehr“.
Cabo Girao – 580 Meter senkrecht in die Tiefe.
Um das ungute Gefühl in meinem Magen zu ignorieren, schaue ich mal zunächst in die Ferne.
Nach Funchal, über die gesamte Südküste Madeiras hinweg.
Dann inspiziere ich mal die technischen Gegegebenheiten, bevor ich einen Schritt auf die Plattform wage.
Aha, Stahlgerüst und die Felder mit Glasplatten ausgelegt.
Da hat doch an einer Ecke tatsächlich so ein Wahnsinniger mit einem Hammer mal ausprobiert, wie schlagfest das Glas sich verhält.
Er hat immerhin ein paar Sprünge hingekriegt. dass ihm dabei die anderen Besucher des Capo Giraos zugeschaut haben, lässt vermuten, dass es ganz viel Bekloppte gibt.
Und jetzt werde ich bald auch dazu zählen.
Zu denen, die ihr Leben von der Standhaftigkeit einer Glasplatte abhängig machen.
Aber noch traue ich mir den Schritt auf den Skywalk nicht zu, zuerst beobachte ich einmal.
Da gibts die, die einfach drauflos rennen, kein angsterfüllter Blick, kein Zögern, das Handy schon griffbereit in der Hand für dieses sensationelle Selfie.
Vorsichtig tastend, mit dem rechten Fuß, dann den linken noch vorsichtiger nachführend, so betritt die zweite Gruppe die Plattform.
Und dann das entspannende Lächeln auf den Lippen, als kein Knistern zu hören ist.
Ich denke mir eine andere Begehungstaktik aus.
Man muss ja nicht unbedingt in der Mitte der Glasplatte auffußen.
Man kann sich ja mal von Stahlsegment zu Stahlsegment vor an die Balustrade pirschen. Sieht natürlich auch ein bisschen nach Angsthase aus.
Aber es ist immerhin mutiger als die Vielzahl der Besucher, die den Kopf verneinend schütteln und lieber auf der Bank unter der Platane Platz nehmen und botanische Studien betreiben.
Man muss ja nicht unbedingt 580 Meter in die Tiefe schauen.
Was gibts denn da auch zu sehen?
Ein paar landwirtschaftlich genutzte Parzellen, auf denen vielleicht Gurken und Tomaten wachsen, was sich in der Betrachtung von hier oben allerdings nicht genau sagen lässt. Man müsste hinunter.
Der schnellste Weg wäre natürlich der freie Fall.
Einmalig.
Es ist doch komisch mit uns Menschen.
Oder nur mit mir?
Stehen wir am Fuß eines Berges wollen wir unbedingt hinauf und jetzt mache ich mir hier Gedanken, wie man da hinunter kommt.
Straße?
Führt garantiert keine hinunter.
Bleibt also nur die Anfahrt über den Atlantik.
Ich werde mutiger und mache meiner Liebsten Mut.
Auf, trau dich.
Bald stehen wir beide am Stahlgeländer und blicken von Europas höchster Klippe.
Oder nur zweithöchster?
Das müsste man nachmessen.
Behaupten kann man ja viel.
Aber jetzt gehen wir erst mal einen Poncha trinken.
Oder heißt es „eine Poncha“?
Egal, sie (er) wird unsere ramponierten Magennerven wieder stabilisieren.
Höher sind die Klippen von Slieve League in Irland mit 601 Meter.
Ein (e) Poncha ist das Nationalgetränk der Madeiraner. Ganz viel Rum, mit Honig und ? Man weiß es nicht so genau.