Ich komme gar nicht in Versuchung.
Ich leide schon lange nicht mehr an jugendlicher Selbstüberschätzung.
Für mich sind diese Höhen nicht gemacht.
Wir bevorzugen die Kletterpartie in die Tiefe.
Oder das Ausruhen in einem gewaltigen Felsenloch.
Oder wir suchen Kobolde und andere Fantasiegestalten.
Wir brüllen nicht von den erklommenen Spitzen der roten Granittürme herunter, um den akustischen Beweis für eine Bergbesteigung abzuliefern.
Wir lauschen dem Wind, der sich beim Umschmeicheln der Felsnadeln pfeifende Töne entlocken lässt, atmen Meeresluft mit Kräuterduft und spähen hinaus, übers Meer hinweg, wo in der Ferne die schneeweißen Felsen der korsischen Südküste glitzern.
So sind beinahe alle unsere Sinne angesprochen.
Den Gleichgewichtssinn können wir auch beim Übersteigen und Umrunden der Friedhofssteine trainieren.
Die Felsengärten rund um den alten Leuchtturm am Capo Testa werden auch Cimitero dei Sassi genannt, was in unsere Sprache übersetzt „Friedhof der Steine“ heißt.
Wir sind mal wieder an einem Kap, heute nur windumschmeichelt, an vielen Tagen windumtost.
Das einzige, was mich vielleicht an Friedhof erinnert, ist heute die Stille hier an Sardiniens nördlichstem Zipfel.
Und was mich zudem beeindruckt, ist die geologische Einsicht, dass das Weiche das Harte besiegt.
Dass Wind und Regen, salzgeschwängerte Seeluft und sommerlich brütende Hitze hier dem harten Granit den Garaus machen, über Millionen von Jahren hinweg.
Der rote Granit Sardiniens, das Kennzeichen der Gallura, des nördlichen Teils Sardiniens, ist mir aus Deutschland wohl bekannt, wurde er mir doch vom Baustoffhändler als Rosa Sardo angepriesen und von mir in Treppenhaus, Flur und Küche als unzerstörbarer, hochglanzpolierter Bodenbelag verlegt.
Hier erlebe ich ihn nur als bröckeliger, mit dem Fingernagel abkratzbarer Schwächling.
Zu lange schon ist ihm hier die schützende Erdschicht entzogen, ist er freigelegt und den Unbilden der Naturkräfte ausgesetzt.
Grobkörnig geworden hat sein Feldspat, sein Quarz und sein Glimmer den Zusammenhalt verloren.
Uns an manchen schwierigen Passagen zusammenhaltend, stromern wir zu Füßen des alten Leuchtturms durch dieses Felsenlabyrinth.
Als die ersten Busladungen ihre Wandergruppen ausspucken, die Sonntagsausflügler die wenigen Parkplätze auffüllen, machen wir uns wieder auf den Weg zurück nach Santa Teresa di Gallura.
Nach unserem gestrigen Eindruck müsste dort heute eine Prozession zu Ehren des Stadtheiligen geplant sein, bei der die Heiligenfigur auf den Schultern vieler Gläubiger durch den Ort getragen wird.
Dazu die Trompeten und Klarinetten der Musikkapelle,
die Gendarmerie in Festtagsuniform, die Kinder fein herausgeputzt.
Über dem Platz bereits der Räucherduft von hundert und mehr Bratwürsten auf riesigen Grills.
Das bringt mich in Versuchung.