Es könnte Sperrmüll sein.
So wie wir das in den Siebzigern noch gewohnt waren.
Alles wild durcheinander und ab damit vor die Haustüre.
Nur, hier hängt der Sperrmüll etwa in 5 Meter Höhe.
Eine Riesenarbeit, all das unnütze Zeug auf diese Höhe zu bringen.
Will man es auf diese Weise dem Materialkreislauf entführen?
Vor Sperrmüllverwertern in Sicherheit bringen?
Wir waren, im Sommer 2006, auf Urlaub in Sizilien, morgens von Cefalu aus angereist und hatten zunächst mal das Verkehrsgetümmel von Palermo umgangen, waren auf dem Monte Caputo – ja, der heißt wirklich so – und hatten uns an der ganzen Pracht des Normannendoms und des dazugehörigen Kreuzgangs erfreut.
Mit dem Blick von Monreale aus auf die Conca d’oro war jedoch der Wunsch größer geworden, den Nachmittag für einen Streifzug, einer Art Erstbegegnung, durch Palermo zu reservieren.
Irgendwo am Hafen fanden wir eine Parklücke, schlugen den erstbesten Weg in das Straßengewirr ein und standen jetzt, die Augen verwundert reibend, vor dem Haufen Sperrmüll.
Vor dem Haufen Sperrmüll ist ortsbezogen nicht korrekt ausgedrückt, wir standen unter dem Sperrmüll.
Vermutungen, beim letzten Erdbeben könnten die straßenseitigen Häuserfronten weggebrochen sein und wir würden jetzt in die Zimmer der ehemaligen Bewohner blicken, lagen nahe.
Wenn uns nicht eine Horde Jungs ohne Scheu an der symbolischen Hand genommen hätten und uns zielstrebig zu einer kleinen, freien Stelle zwischen all den an der Mauer stehenden Müllcontainern geführt hätten.
Ein Tisch, zwei Stühle, ein Mann, eine Frau zwischen aufeinander getürmten Altreifen .
Das auf die Parkzeiten hinweisende Verkehrsschild war mit roter Farbe neu beschriftet, sozusagen verschmiert mit dem Wort „Uffizio“ und darunter die angegebenen Öffnungszeiten
Ja, was war das?
Öffnungszeiten zwischen Reifenstapel?
Die Jungs hatten sich in der Zwischenzeit um den Mann, darf ich vorstellen – Uwe Jäntsch – und die Dame, darf ich vorstellen – Constanza Lanza di Scalea, Managerin des vorgestellten Herrn, geschart und stellten die Lauscher.
Endlich mal wieder was los in ihrem Viertel.
Constanza, wir durften du zu ihr sagen, erklärte uns in ihrem sizilianisch angehauchten Englisch, dass Uwe in Deutschland, genauer in Wasserburg am Bodensee geboren war, aufgewachsen aber in Bregenz, sein Kunststudium nach wenigen Monaten abgebrochen hatte und nun seit vielen Jahren hier in Palermo wohnte.
Und wirkte.
Und sie seine Managerin sei.
Soweit hatten wir das ganz gut verstanden, nur der Sperrmüll bereitete uns Verständnisschwierigkeiten.
Uwe Jäntsch klingt nach deutscher Nationalität, wir wussten damals noch nichts, absolut nichts über den Künstler und da wir dieser Sprache von Geburt mächtig waren, konnten wir uns auch mit Uwe unterhalten.
Aber irgendwie nahm seine Managerin ihren Job sehr ernst.
Vielleicht hatte sie es auch nicht gern, dass wir uns in einer für sie unverständlichen Sprache unterhielten, jedenfalls erklärte sie uns diese Kunstaktion des Uwe Jäntsch, der still neben ihr stand und, vielleicht hatte er eine lange Nacht hinter sich, vielleicht eine sehr lange Nacht, eigentlich schweigend zuhörte.
Wir fragten auf Englisch, sie antwortete in Sizilianisch-englisch und Uwe, ich nehme es mal an, dachte sich seinen Teil auf deutsch – halt – korrekt in östereichisch.
Und das alles unter der schwarzen Sonne Siziliens, die an die Rückwand des Palastes gepinselt war.
Oder neben einem Riesenstapel alter gebrauchter Autoreifen.
<Kathedrale des Mülls>
So benannte Uwe die Kunstinstallation, die sich direkt über dem Uffizio bis ins vierte Stockwerk entwickelt hatte.
In diesem Stadtviertel Palermos, völlig heruntergekommen, ein ehemalig einmaliges Renaissanceensemble, lag dieser Platz.
Die Piazza Garraffello.
Die Vucciria, das einst prächtige Bankenviertel von Siziliens Hauptstadt, bröckelt schon lange vor sich hin.
Halb verfallene mittelalterliche Palazzi trotzen tags der Hitze, entgehen völlig der Aufmerksamkeit des Stadtparlaments von Palermo und werden wahrscheinlich nachts von Fremden gemieden.
Auf dieser zentralen Piazza Garraffello, ein kleiner Platz mit einem uralten Brunnen und zugleich der Ort, an dem 1624 die Pest in Palermo ausbrach, arbeitet unser Uwe Jäntsch.
Wir waren auch mit ihm schnell per du, seit zehn Jahren schafft er unermüdlich an dieser Skulptur immensen Ausmaßes.
Zunächst stand Jäntsch, der im obersten Stockwerk eines an die Piazza grenzenden, abbruchreifen Renaissancebaus lebt, morgen für morgen vor Abfallbergen, die zwischen den parkenden Kleinwagen illegal abgeladen worden waren.
Neben stinkendem Hausmüll ganze Wohnungseinrichtungen und Bauschutt.
Er füllte einen gigantischen Palast, dessen Vorderfront 1995 von den Behörden eingerissen worden war, um den Einsturz zu verhindern, mit dem gesammelten Unrat mehrerer Monate, bis zum Dach auf – unser Sperrmüllhimmel.
Diese, vom Künstler als „Kathedrale des Mülls“ bezeichnete Installation duldete die Kommune, die der illegalen Entsorgung von Müll auf den Straßen bis heute tatenlos zusieht, natürlich nicht, man konnte doch eine solche Verschandelung ihres Stadtviertel nicht hinnehmen.
Jäntsch errichtete danach unter anderem ein mächtiges Christuskreuz aus bunten Limonadenkästen an der Stirn des Palasts.
Er bemalte verlassene Ladeneinheiten des Vucciria-Markts mit den Emblemen von Esso, McDonald’s und der Banco di Sicilia und bastelte einen mobilen Bancomat, der natürlich kein Geld ausspuckte – eine künstlerische Vorwegnahme dessen, was dem vergammelten Quartier im Falle der Grundsanierung blühen wird.
Constanza hatte sich in Rage geredet.
Uwe stand schweigend neben ihr.
Vielleicht glaubte ich bei ihm ein leichtes Schmunzeln zu entdecken, aber seine gewaltige schöpferische Kraft, die in der Schilderung seiner Lebensgefährtin zum Ausdruck kam, konnte ich bereits erahnen.
Dass Uwe über die Fassade eines der heruntergekommenen Paläste 250 Liter Milch gekippt hatte, erzählte sie uns und dass bis heute die Bevölkerung dieses Stadtviertels voll hinter ihnen stünde, sie unterstützten und vielleicht deshalb sich die Polizei bis zu diesem Zeitpunkt unseres Gesprächs nicht sehen ließ.
Bereits 1999 überzog Uwe sichtbar gewordene 19 Innenräume mit Blumenmuster.
Dafür benötigte er fünf Monate, für die Malerei am einsturzgefährdeten, ehemaligen prachtvollen, Palazzo Loggia dei Cattelani .
Ohne Gerüst und Sicherungsseil.
In einem, mit seinen Blumen überzogenen Palazzo, installierte er seine Person im 25. Raum in einem goldenen Bett und ließ sich zusammen mit Besuchern, die über eine lange Leiter zu ihm hochklettern mussten, für zehn Euro pro Person fotografieren.
Irgendwie erinnerte mich das an Salvadore Dali, der sich ja auch mit seiner Gala, allerdings in getrennten Betten liegend, gerne gegen Bezahlung bewundern ließ.
Ob er sich fotografieren ließ, weiß ich allerdings nicht.
Für die Fotos, die ich von Uwe während unseres Gesprächs machte, verlangte er nichts, er war ja auch nicht besonders aktiv, obwohl nur im Bett gegen Bezahlung herumliegen mir noch eine Spur fauler erschien.

Bei der Gelegenheit erstanden wir natürlich die angebotene Broschüre, mit der das Künstlerpaar einen Teil seiner Lebenshaltungskosten finanziert.
Ein halbes Jahr vor unserer Begegnung hatte Uwe in einer Performance in zwölf Minuten mit 130 roten Farbbeuteln seine Blumenwände der Loggia dei Cattelani vor zahlreichen Bewunderern bombardiert.
Höchst aktiv also, der Mann.
Und jetzt gerade, kurz bevor wir die Piazza Garraffello schon zum Sperrmüll-Sammelplatz erklären wollten, hatte er die Balkone der Fassade des Palazzos Lo Mazzarino Merlo mit Hunderten von leeren Bierkästen gefüllt.
Wer den Inhalt getrunken hatte, vielleicht bei einer seiner nächtlichen Installations-Happenings, konnten wir nicht erfragen.
Wer den zur Müllkippe verkommenen Brunnen in der Mitte der Piazza mit einem Fragezeichen versehen hatte, erfuhren wir aus dem Munde der sizilianisch-adeligen Constanza.
Mit ihrer empörten Wortorgie, dass sie für diese symbolträchtige Beschmierung dieses Brunnens, der eigentlich schon Jahrzehnte ohne Wasser zur Müllkippe entfremdet wird, von der Stadt Palermo zur Rechenschaft gebeten wurden.
Sie müssten für die Reinigungskosten aufkommen.
Da lachen ja die Hühner.
Allerdings gelingt es mir nicht, diesen Ausdruck ins Englische zu übersetzen, aber eine entsprechende Handbewegung an meine Stirn lässt meine solidarischen Gefühle erkennen, wahrscheinlich hat Constanza mich mit ihrer gestenreichen Erklärung angesteckt.
Nein, bei diesen Zuständen kann man seine Hände nicht einfach so in der Hosentasche verbergen.
Dabei war das große, schwarze Fragezeichen auch in unseren Augen der einzige passende Kommentar für die jahrzehntelange Vernachlässigung eines ganzen Stadtviertels aus der Zeit der Renaissance.
In der Zwischenzeit hatte sich die männliche Jugend der Vucciria um uns versammelt, starrten ebenso gebannt auf die großformatige Dimension der Dokumentation und auf ihre Constanza, die wohl für sie in vielen Stunden zur Ersatzmutter wurde.
Ein paar Schritte weiter hatten sich ihre echten Mütter und Schwestern, vielleicht auch die Omas an einem kleinen Tisch eingefunden.
Wahrscheinlich verbrachten sie hier in geselliger Runde die hellen Sommertage und beobachteten ihre Männer, Söhne oder Opas, die ein neu gekauftes motorisiertes Kindermotorrad in Schwung brachten, so dass der kleine Rennfahrer damit seine erste Runde drehen konnte.
Die Vucciria schien aus der Siestazeit zu erwachen.
Die Öffnungszeiten des Ufficio hatten wir sowieso missachtet, also war jetzt der Besuch einer Bar dringend nötig, mindestens ein Espresso nötig, um die Atmosphäre der Piazza Garraffello letztendlich doch nicht als Sperrmüllkippe abzuspeichern.
Heute, als ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass die Stadt Palermo alle Installationen des Uwe Jäntsch, nach siebenjähriger Aktivität, mit einem Großaufgebot an Polizei, Feuerwehr und der Stadtreinigung im November 2006, wenige Wochen nach unserer „ Besichtigung“, entfernen ließ.
Wahrscheinlich spekulierend auf eine Gentrifizierung.
Und dafür braucht man schöne, heruntergekommene Paläste, mit ordentlichem Müll davor.
Und keinen Sperrmüll in Palermos Himmel.