…wunderschön strahlen ihre vergoldeten Kreuze in den tiefblauen nordischen Himmel und als die 16 Tonnen schwere Glocke zu schwingen beginnt und im Chor mit den restlichen 10 Glocken…
Im Licht der untergehenden Sonne bewundern wir die russsisch-orthodoxe Alexander Newski (1) Kathedrale auf Tallinns Domberg.

Sie wurde in den letzten 5 Jahren des 19.Jahrhunderts gebaut, bekam ihren Namen nach dem russischen Nationalhelden und Heiligen.
Ursprünglich sollte an dieser Stelle damals ein Lutherdenkmal errichtet werden, was aber von den russischen Behörden untersagt wurde.
Sie ist somit ein Sinnbild für die Russifizierung Estlands gegen Ende des 19.Jahrhunderts.
Womit die Frage beantwortet wäre, weshalb die Esten diese Kathedrale nicht besonders lieben.
Wunderschön strahlen ihre vergoldeten Kreuze in den tiefblauen nordischen Himmel und als die 16 Tonnen schwere Glocke zu schwingen beginnt und im Chor mit den restlichen 10 Glocken ein gewaltiges Geläut vom Domberg über die Stadt erschallen lässt, sind die politischen Resontiments schnell vergessen.

Für den nächsten Tag sind wir durch unsere Gastgeber zu einer kleinen Auto-Rundreise um Tallinn eingeladen, die dann am Abend auf ihrer Datscha enden soll.

Entlang des Küstenverlaufs fahren wir gen Westen und stoppen in einem Gebiet, das früher von den Sowjets besetzt war.

Heute stehen nur noch ein paar zerfallene Verwaltungs- oder Mannschaftsgebäude auf diesem Areal.
Im Gespräch erfahren wir, dass über der Meeresbucht die Stadt Paldiski liegt, geheimnisumrankt, handelte es sich doch unter den Sowjets um eine verbotene Stadt, die du auch heute, wenn dir dein Leben lieb ist, besser nicht betreten solltest.

Hier lag früher das Trainingszentrum für nuklearbetriebene U-Boote der Sowjetunion und der Betrieb von zwei Trainingsreaktoren hat nach dem Abzug der Sowjetarmee seine nuklearen Spuren hinterlassen.

Mit Hilfe europäischer Gelder versucht man die atomare Strahlung einzubetonieren.
Tschernobyl und Fukuschima lassen grüßen.
Auf dem Friedhof zeigen die gleichen Todestage auf einigen Gräbern, dass „irgendetwas“ damals schon stattgefunden haben muss, denn das wäre wohl zuviel des Zufalls, meinen unsere Gastgeber, als sie uns über den verlassenen, verwilderten russischen Friedhof führen.
Unsere Gastgeber sind auf die Russen nicht gut zu sprechen.
Sie sind der Ansicht, dass sie goldfroh sind diese Typen los zu sein, allerdings hören wir auch die Sorge heraus, dass Russland das Land wieder besetzen könnte, zum anscheinend dringend notwendigen Schutz der russischsprachigen Minderheit.

Heute, mit den Erfahrungen der Ukrainekrise, kann man diese Sorge sicher teilen.
Der Abend klingt auf der Datscha aus, die Frauen begeistern sich an der Vegetation und trinken Kaffee, wir zwei Männer natürlich Wodka.

Idylle auf der Datscha
In Wassergläsern, wie man das so aus Filmen kennt.
Nach dem 3. oder 4. Glas murmle ich, eigentlich Teetrinker, vor jedem neuen Glas heldenhaft vor mich hin:
„Herbert- sei ein Mann!“
Und runter damit.

Wie ich heimgekommen bin, weiß ich ehrlich nicht mehr.
Aber mein heldenhafter Umgang mit dem Wodka lässt meinen Ausspruch zum geflügelten Wort für die nächsten Tage werden.

Viel frische Luft ist am nächsten Morgen nötig und wir machen uns auf die Wanderschaft nach Osten, am Hafen vorbei in Richtung des Fernsehturms, der uns mit 314 Metern Höhe einen herrlichen Ausblick verspricht.
Drei Stunden, ich habe die Wegestrecke auf der Karte mal wieder unterschätzt, laufen wir, um vor verschlossenen Toren zu stehen.
Reparaturarbeiten.
Herbert, sei ein Mann- der Weg ist das Ziel!

Auf dem Rückweg dringen wir durch den Wald zum – nein, nicht Fussballstadion, zum Stadion für das estnische Liederfest vor.
Da das aber nur alle fünf Jahre stattfindet, bewundern wir nur leere Ränge. (2)
Sängerfest 2009 – Quelle Wikipedia
Nichts los ?
Das müssen wir ein bisschen anders sehen.
Hier auf dem Sängerfeld “ Lauluväljak“ fand die singende Revolution statt, mit der sich Estland aus dem Machtbereich der Sowjetunion heraussang.
Das Nationalbewußtsein der Esten kam in ihren estnischen Liedern kollektiv zum Ausdruck.
Singen war für die Esten von 1940 bis 1991 immer auch ein versteckte Form des Widerstands gegen die sowjetische Besatzung.
Wir bahnen uns den Weg, natürlich fiktiv durch eine halbe Million Zuschauer, zurück auf die Straße, die zum Jachthafen von Tallinn führt.
Hier, rund um Tallinn, fanden 1980 die Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele von Moskau statt.

Aber heute ist gar nichts los.
Menschenleere und ein paar armselige Böötchen auf der Werft.
Also weiter zu Fuß nach Pirita, Tallinns längstem und großartigstem Strand

Hier soll im Sommer der Bär ab gehen.
Hier?
Eine Mordsstimmung herrschen.
Hier?
Partystimmung?
Hier?

Unsere Stimmung hat den Tiefpunkt erreicht, als wir sehen, dass hier tote Hose herrscht und zudem die 18 Grad Lufttemperatur durch einen schneidenden Ostwind sich der gefühlten Nullmarke nähert.

Der dicke Kopf hat in der Zwischenzeit genügend Frischluft assimiliert, so dass wir uns in einen stickigen Stadtbus wagen, der uns in einigen Minuten ins Zentrum zurückbringt.
Und weil wir nicht genug bekommen können, besteigen wir jetzt auch noch die Dachterrasse des Swissotels, um den Sonnenuntergang bewundern zu können.

Abends bewundern wir dann unsere Blutblasen an Ferse und großem Zeh und Wunder oh Wunder, so gut haben wir die letzten Wochen nicht geschlafen, wie in dieser Nacht.
Wir gestehen, dass wir dazu allerdings ein paar Fläschchen Bier getrunken hatten.
(1)Alexander Newski, Großfürst von Nowgorod, kämpfte 1242 gegen die deutschen und dänischen Ritter und gewann die entscheidende Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee. Damit waren die Eroberungsgedanken des Deutschordens für lange Zeit auf Eis gelegt. Er wurde im 16.Jh. heilig gesprochen.
(2)Die Tradition des estnischen Liederfests wurde 1869 begründet. Sie ist im Kontext des Erstarkens eines estnischen Nationalbewusstseins zu sehen. Das estnische Liederfest findet derzeit alle fünf Jahre in Tallinn statt (nächste Veranstaltung: 2019). Beim Liederfest 2014 traten über 33.000 Sänger vor fast 153.000 Zuhörern auf. Der gemeinsame Chor bestand aus 22.000 Sängern. Das estnische Liederfest ist damit eine der größten Veranstaltungen für Laienchöre weltweit.
2003 wurden die estnischen, lettischen und litauischen Lieder- und Tanzfeste von der UNESCO als Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit anerkannt und 2008 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen (aus Wikipedia entnommen)