…Sommerfrische und Schlamm haben diesen Ort im russischen Reich berühmt gemacht, als ein estnischer Arzt namens Carl Abraham Hunnius die gesundheitliche Bedeutung des Heilschlamms entdeckte….
Der Weg ist (nicht) das Ziel.
Nach Haapsalu!
Aber doch nicht zu Fuß?????!!!!!!
Nein, das ist zu weit, das geht nur mit dem Bus.
Dazu muss ich keine Entfernungsmessungen anstellen.

Ich kann also nicht schuld dran sein, wenn heute abend wieder irgendetwas schmerzt, irgendeine Wasserblase aufgestochen werden muss.
Heute werden sich unsere Füße erholen.
Haapsalu soll ja die Sommerhauptstadt Estlands sein.
Jeder Este verbringt seinen Sommer am Meer.
Haben wir gehört.
In Haapsalu.
Haben wir gelesen.

Direkt am Meer gelegen und Aufenthaltsort jedes tallinnischen Studenten- natürlich auch der Studentinnen- im kurzen estnischen Sommer.
Hat man uns gesagt.
Haapsalu ist so etwas wie Florida für amerikanische Studenten.
Haben wir vermutet.
Oder Mallorca für gestresste deutsche Abiturienten, oder Kegelclubs, oder Fußballmannschaften, oder….
Raus aus der Hauptstadt aufs Land.
Wir – meine Frau und ich sind schon etwas älter – hätten früher wahrscheinlich Sommerfrische dazu gesagt, aber diesen Begriff kennt die estnische Sprache nicht.
So haben wir mit dem Schlimmsten gerechnet.

Sommerfrische und Schlamm haben diesen Ort im russischen Reich berühmt gemacht, als ein estnischer Arzt namens Carl Abraham Hunnius die gesundheitliche Bedeutung des Heilschlamms entdeckte und diese kleine Stadt sich zum mondänen Kurbad entwickelte.(2)
Vielleicht können wir eine Handvoll des heilenden Schlamms ergattern und abends auf unsere wunden Füße legen.

Und jetzt – halten sie sich fest.
Wahrscheinlich bin ich irgendwie mit diesem Kerl “ Carl Abraham Hunnius“ verschwiegertochtert.
Sie heißt Caroline und ist eine geborene Hunnius.
Heutzutage mit meinem Sohn verheiratet.
Ach so, sie meinen, das sei nicht meine Blutlinie?

Das alles habe ich aber bei dieser Reise noch nicht gewußt, geschweige denn geahnt, das mit der Verwandtschaft.
Sonst hätte ich mich mal im Rathaus von Haapsalu vorgestellt.
Und jetzt habe ich mich nach dieser Reise bei Carolines Familie erkundigt, sie haben wohl einen Stammbaum, der bis 1625 zurückreicht, aber sie können ihn leider im Moment nicht finden, habe ich vernommen.
Aber behaupten, der liebe Carl Abraham würde natürlich zu ihren Vorfahren zählen.

Ich fürchte, dass das bei Vermutungen bleiben wird.
Beweise müssen her, bevor ich zum Ehrenbürger Haapsalus ernannt werden kann.
Davor fürchte ich mich nicht, aber befürchtet habe ich allerdings schon im beinahe leeren Überlandbus, dass in diesem Städtchen mal wieder nichts los sein wird und so war es auch.
Der Sommer war vorbei, die Studenten wieder am studieren und wir zwei ganz alleine in Haapsalu.

Deshalb schnell mal die Straße verlassen – Landkarte hatten wir wieder einmal keine dabei – und den Weg durchs Ried eingeschlagen, der uns zum Bahnhof dieses kleinen Städtchen führte, denn wir wollten mal wieder eine Superlative begutachten.
Dem russischen Zaren war anscheinend dieser heilende Dreck nicht dreckig genug, um nicht auch seinem geschundenen Körper an einigen Stellen Linderung zu verschaffen.
Wahrscheinlich aber nicht an Wasserblasen.
Wie kommt man aber als Zar aus Petersburg nach Haapsalu?
Mühselig auf Waldwegen durch endlose Birkenwälder?
Wohl kaum.
Und mit dem entsprechenden Gefolge?
Als Zar reist man doch niemals allein.

Der Gute hatte kurzfristig eine Idee und seine Untertanen langfristig Arbeit.
Eine Eisenbahnlinie wurde gebaut, von Petersburg nach Haapsalu, und 1907 – und jetzt kommt der Superlativ – Europas längster überdachter Bahnsteig in Haapsalu errichtet.

So ein Romanow kam nicht mit einem Waggon, auch nicht mit zwei oder drei, nein auf 200 Meter Länge musste man aussteigen können, ohne auch nur einen Regentropfen abzubekommen oder die edle vornehme Blässe durch einen hellen Sonnenstrahl gebräunt zu bekommen.


Vom Salon aus, wir würden es Wartesaal nennen, in dem Sekt und Kaviar zur Begrüßung gereicht wurden, ging es dann wahrscheinlich in zig Kutschen ins Hotel, ohne langweilige Wartezeit.
Oder irgendwo sonst hin, das hat mich auf dieser Reise aber nicht mehr interessiert.

Die Bahnlinie wurde aus Rentabilitätsgründen in den 90 ern stillgelegt und sogar abgebaut, der Bahnsteig allerdings hat die Jahre überlebt, die Romanows leider nur die nächsten zehn Jahre nach seiner Erbauung.
Für sie war 1917 Schluss mit heilbaden.

Mein Magen hatte sich nach der Vorstellung des zaristischen Speiseplans für eine Pizzeria interessiert, für eine Grande Pizza.
Die Wartezeit auf meine Lieblingsspeise in Estland vertrieb ich mit dem Studium weiblicher Unterwäsche, die zum Trocknen in der Sonne flatterten.
Wirklich nur zum Trocknen oder war das ein Marketing-Gag, um Gäste ins Lokal zu locken?

Eine ganz üble Anmache!
Herbert – sei ein Mann und schau weg.
Konzentrier‘ dich ganz auf die Pizza.
Ja, irgendwie hatte ich mich – zusammen mit meinem Magen – anscheinend zu sehr auf das Essen konzentriert.
Das hat mein Magen nicht so gerne.

Und da der Himmel keinerlei Regen ankündigte, das Riedgras wirklich trocken war und meine Liebste mit einverstanden war, lag ich die nächsten 2 Stunden am Ufer der Ostsee.
Lauschte dem schwachen Wellenschlag, träumte aber schon wieder vom Essen.
Aber diesmal von hausgemachten schwäbischen Maultaschen.
Die Rückfahrt mit dem Linienbus gelang uns – gesundheitlich wieder hergestellt – wirklich auf Anhieb.
Allerdings dauerte es, bis jede kleine Ortschaft angefahren war und die werktätige Bevölkerung Estlands heimkehren konnte.

Als der Bus direkt vor der „Olde Hanse“ stoppte, sahen wir dies als Aufforderung, heute abend hier unseren Hunger zu stillen.
Sie glauben ja gar nicht, wie hungrig Busfahren machen kann.

Nein, wir brauchten eine Kleinigkeit aus dem Kupferkessel über dem offenen Feuer.

Und wie man sieht, war der Begriff des fließend warmen und kalten Wassers nicht nur in unserem Hotelprospekt ausgewiesen.

Holde Fräuleins und edle Knaben, bittet uns herein.

Herein, noch einmal ins “ Olde Hanse“ und noch einmal die Mittelalter-Speisekarte rauf und runter und noch einmal der mittelalterlichen Musik gelauscht, bevor es morgen wieder zurück nach Karlsruhe geht, zurück in die Jetztzeit, zurück in eine Stadt, die Mittelalter niemals gekannt hat.(1)

(1) Karlsruhe wurde 1715 gegründet durch einsamen Beschluss des Markgrafen Karl Wilhelm von Baden. Ihm ging wahrscheinlich der mittelalterliche Lärm rund um seinen angestammten Wohnsitz Durlach so was auf die Nerven, dass er im stillen Hardtwald seine Ruhe suchte. Und seine letzte fand.
(2) Carl Abraham Hunnius wurde 1797 in Reval geboren und starb 1851 in Haapsalu. Er begründete die Kurtradition in Estland. Hier in Haapsalu verkehrte die Oberschicht des Zarenreiches.