Was habe ich mir so vor etwa 43 Jahren die Finger wund geschrieben!
Ne, nicht in der Schule, da zählte ich zu den Faulen.
Beim Studium?
Nee, da zählte ich zu den Gscheiten, hatte ein gutes Gedächtnis und konnte mir ganz viel merken.
Sozusagen abspeichern.
Halt, in der Zeit, von der ich spreche, gabs dieses Wort nicht.
Abspeichern im Jahr 1970?
Unmöglich.
Jeder hätte mich für doof erklärt, wenn ich eine Maus in den Händen gehabt hätte.
Wenn ich eine hatte, dann wars ne echte und ich musste drauf achten, dass ich nicht gebissen wurde.
Meine Mutter sprang auf den Stuhl, wenn wir Kinder oder ihr Ehemann von einer Maus auch nur andeutungsweise sprachen.
Das Wort löste sofort einen Fluchtreflex bei ihr aus.
Ja, die Reflexe.
Ach, jetzt weiß ich wieder, was ich erzählen wollte.
Von meinen Reflexen.
Lief damals ein hübsches Mädchen an mir vorbei, löste das bei mir einen Pfeif-Reflex aus.
Für die damalige Zeit ein typisch männliches Verhalten.
Was glaubt ihr, wie sehr ich die Maurer und Gipser bewundert habe, die vom hohen Gerüst jedem weiblichen Wesen nachgepfiffen haben?
Sozusagen akustische Liebespfeile abschossen.
Ich hab aber schnell gemerkt, dass da drauf nicht jedes Mädchen steht.
Was sollte man also machen, um jemand Weibliches kennen zu lernen?
Kein Internet.
Kein Chat-room!
Und im Fussballverein gabs keine Frauenmannschaft.
Nur Jungs!
Wir Jungs von damals hatten einen ganz tollen Trick drauf.
Manchmal hats geklappt.
Wir warteten auf den Zufall.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass all meine Bekanntschaften zufällig entstanden.
Ich ging zufällig bei Rot über die Ampel- die gabs nämlich damals schon -und schon war ich im Gespräch mit einer hübschen Blonden.
Ich ging ins Freibad und schon war ich im Gespräch mit einer aufregenden Schwarzhaarigen.
So hab ich meinen Schatz kennengelernt.
Kennenlernen war also nicht schwierig.
Aber den Kontakt behalten, das neue Wesen in mein Leben andocken, das war das Problem.
Telefon?
Eigenes Telefon?
Dazu war mein Bafög nicht hoch genug.
Also Gemeinschaftstelefon auf dem Flur vom Studentenwohnheim.
Telefon!!
Irgendeiner ging hin.
Und dann wurde gebrüllt: Herbert für dich!
Man musste sich kurz fassen, denn der nächste erwartete ebenso einen Anruf.
Manche Abende waren nicht zum Schlafen gedacht.
Ein einziges Gebrüll nach irgendeinem Uwe, Jürgen oder Helmut, wie sie damals hießen
Aber dazu musste SIE anrufen.
Und ein Mädchen aus dieser Zeit ruft nicht einfach so einen Typen an, den sie erst ein paar Tage kennt.
Ein anständiges Mädchen tut sowas nicht, damals jedenfalls.
Also, du musstest an ihre Adresse kommen.
Schließlich wohnte sie in Karlsruhe.
Aber bei ihren Eltern.
Irgendwie hat das immer geklappt.
Auch bei anständigen Mädchen.
Und dann gings ans Schreiben.
Die Post war damals sehr zuverlässig.
Also montags geschrieben, konnte ich mit einer Antwort so gegen Ende der Woche rechnen.
Ich konnte aber nicht immer die Antwort abwarten.
Wäre ja doof gewesen, einen Brief pro Woche als intensives Werben um die Hübsche zu bezeichnen.
Und damit begann der Stress.
Briefpapier, Couvert, Briefmarken und verschiedene Farben im Füller.
Sehr wichtig.
Und jetzt begann die Arbeit.
Mehrere Briefe pro Tag.
Meine Briefe begannen nie mit der banalen Handy-Frage: Wo bist du?
Und Sie antwortete nie: Ich bin hier.
Meine Briefe zeigten Esprit.
Ausdauernde Kreativität.
Täglich zwei tolle Ideen.
Mindestens!
Und Rosen!
Selbst mit dem Schwimmstil konnte man damals seiner Angebeteten imponieren.
Der Film hieß: Zur Sache Schätzchen.
Den Schwimmstil hatte ich mir dort abgeguckt, verifiziert und ihr bei einem gemeinsamen Bad im Baggersee vorgeführt.
Pro Monat schrieb ich zwei Füller leer, das Porto nagte an meinem Bafög, aber ich wusste, dass ich Ihr etwas bieten musste.
Auf die Dauer war sie mit Briefen nicht zu halten.
Das Handy war immer noch nicht erfunden, aber der Carl Benz hatte schon einige Jahre zuvor seine Berta begeistert.
Mit seiner Erfindung.
Ich kaufte mir eine seiner Erfindungen.
Einen 2 CV.
Grün. Offenes Verdeck. Klappfenster.
Und ich gab dem Kärrele einen Namen: Zenzi.
Sehr kreativ.
Sie war begeistert.
Meine Liebe.
Sie machte den Führerschein.
Und ich musste jobben gehen.
Sonst hätte ich den Krösus nicht weiterspielen können.
„Gehn wir heute abend ins Kino?“
Der Kavalier zahlt.
„Fahren wir mal nach Frankreich. Ist ja nicht weit.“
Kein Problem.
Das Autochen brauchte nur 4 Liter.
Und auf der Heimfahrt konnte man ja auch mal am Rhein anhalten, den Sonnenuntergang bewundern.
Wir kamen uns näher.
Sie wusste auch, wo ich wohnte.
Es war jetzt an der Zeit, dass ich ihr mal meine Räumlichkeiten zeigte.
Morgen?
Morgen!
Das war allerdings ein bisschen knapp kalkuliert.
Ich hatte wohl einen Kleiderschrank, aber echte Männer benutzen doch keinen Kleiderschrank.
Meine Klamotten lagen überall.
Nur nicht im Kleiderschrank.
Und das Gemeinschaftsbad!
6 Mann und ein gemeinsames Bad.
Ich schrubbte zwei Stunden, kaufte eine neue Zahnbürste und neue Zahnpasta.
Die alte war Ihr nicht zuzumuten.
Kein System beim Rausdrücken.
Deckel seit Monaten vergessen draufzuschrauben.
Nein, so wollte ich mich nicht präsentieren.
Hatten meine Briefe noch einen guten Eindruck hinterlassen, wäre beim Besuch meiner Bude unsere Freundschaft gefährdet gewesen.
Ich kannte sie.
In kürzester Zeit kannte ich sie.
Ich wusste, was sie liebte.
Ich las es ihr von den Augen ab.
Und ich wusste, was sie hasste.
Das war wohl nicht in ihre Augen geschrieben, aber eine kleine Handbewegung, ein leicht irritierter Blick genügte bei mir Sensibelchen.
Ich wusste und erkannte mich.
Die Tempotaschentücher, die gebrauchten, könnte man mal wieder vom Fußboden im Auto aufsammeln.
Warum lagen da seit Wochen drei Bücher auf dem Rücksitz?
Die sollten doch schon längst wieder zurückgebracht werden.
Ich sah das Wort in ihren Augen:
Schlamper.
Tausende von Liebesbriefe geschrieben, darüber verlor sie kein Wort.
Aber einmal die Socken im Zimmer liegen gelassen – vorbei.
Ich sah es ihrem Blick an:
Schlamper.
Und Schlamper war – damals – nicht die männliche Form von Schlampe.
Kein liebenswertes Wort.
Ach, mein Freund ist ein kleines Schlamperchen.
Nee!!!
Schlampern gefährdete unsere Bekanntschaft.
Bei Karstadt erbettelte ich mir ausgediente Kleiderbügel.
Ich kaufte mir einen Zahnputzbecher.
Für die Taschentücher einen Taschentuchspender.
Sie war begeistert.
Dass ich meine getragenen Socken aus olfaktorischen Gründen an Besuchstagen nicht in meiner Bude aufbewahrte, war logisch.
Meine Bude hatte den Namen gar nicht mehr verdient.
Sie war zum Zimmer geworden.
Ich wusste, wo der Staubsauger im Wohnheim ausgeliehen werden konnte.
In meiner Zenzi hing am Innenspiegel ein Waldbäumchen.
In Fliederduft getränkt.
Wir lernten uns noch näher kennen.
Jetzt musste ich sogar für die Sauberkeit der Badewanne Verantwortung übernehmen.
Haare im Abfluss?
Undenkbar.
Niemals würde sie sich nach einer bezaubernden Nacht morgens in eine nicht blitzblank gewienerte Badewanne legen.
Scheuerpulver musste her.
Gemeinsames Frühstück, der Traum einer jungen Liebe.
Aber das Messer doch nicht mitten in die Butter rein.
Oder war da gar noch ein Senfrand zu erkennen?
Für die Marmelade ein extra Löffel.
Wer wird denn da sein Messer abschlecken, um es anschließend in den Honig zu tauchen?
Ich habs ihren Augen in der Zwischenzeit angesehen.
Und sie konnte sprechen.
Mit den Augen.
Und ich konnte es lesen.
Ich wurde ein ordentlicherer Mensch und beendete mein Studium in der Regelstudienzeit.
Stimmt natürlich nicht.
Das Wort ordentlich war damals wohl sehr bekannt, aber von einer Regelstudienzeit war nie die Rede.
Gut, Bafög – es hieß damals Honnef’er Modell – wurde gekürzt und du hast es auf diese Art erfahren, dass es Zeit wird, fertig zu werden.
Wir lernten uns immer näher kennen.
Wir fuhren gemeinsam in Urlaub.
Wir bezogen gemeinsam eine kleine Dachgeschosswohnung.
So klein- und wieder für mich kein Zimmer, wo ich meine Kleider mal nur so hinschmeißen hätte können.
Ne, diesen Platz nahmen jetzt die Windelpakete ein.
„Und die gebrauchten Windeln bitte sofort runter in den Mülleimer!“
Aus rein olfaktorischen Gründen.
Sie war eine tolle Mutti.
Und ich wurde dank ihrer Mithilfe ein toller Papi.
Und für unsere drei tollen Babys war bald kein Platz mehr in dieser kleinen Wohnung.
Wir bauten ein Haus, lebten jahrelang in einer Baustelle.
Mit drei Kindern.
Ich verstehe, dass Sie jetzt nicht mehr mit ihren Augen sprach.
„ Könntest du bitte bis morgen die Zementsäcke wegtun, ich komm mit dem Kinderwagen nicht mehr durch.“
„ Räumst du die Bretter auf. Da stehen überall die Nägel raus, wenn sich ein Kind dran verletzt.“
Ich hatte die bestaufgeräumte Baustelle in ganz Süddeutschland.
Wir bauten im Bad eine Badewanne ein, bei der der Abfluss genau in der Mitte sitzt.
Unsere Kinder sollten nicht mit ihrem zarten Po auf einem Badewannenstöpsel sitzen müssen.
Wir schafften uns einen Gummisauger an, mit dem sich die Haare aus dem Abfluss saugen ließen.
Nur in Deutschland zu haben.
Eine zwei Mark Anschaffung.
Aber Gold wert für den Familienfrieden.
Jetzt sind die Kinder alle aus dem Haus, das Handy ist schon lange erfunden, Liebesbriefe schreibt kein Mensch mehr.
Für Liebesbotschaften per SMS gibt es im Internet praktische Formulierungshilfen mit hundertfünfzig Zeichen
….mein lieber Knuddelbär. ich will dich nicht missen….
….Ich mail dich an, es macht piep, piep, ich hab dich nämlich ganz toll lieb….
You tube, Facebook, Clipfish, My video und ähnliche Plattformen sind voll von Liebesschwüren und Beteuerungen ewiger Zuneigung, die jedoch meist weit am Ziel vorbeigehen und eher in einer öffentlichen Peinlichkeitsorgie münden.
In unseren Briefen stand uns unter dem letzten Kuss, dem letzten Gruß, immer noch eine Steigerung zur Verfügung.
Die sogenannte P.S. Stelle.
Das Post Scriptum.
Ich weiß nicht, ob ich es spannend gefunden hätte, zu wissen, dass halb Deutschland diese Liebesorgienzeile mitliest.
Dass die NSA uns heutzutage abhört, wissen wir ja auch erst seit ein paar Wochen.
Aber unsere Briefe waren damals lesegeschützt durch das Briefgeheimnis.
Also brauchten wir aus unserer Liebe zueinander auch kein Geheimnis machen.
Eigentlich las ich ihre Briefe rückwärts.
Beim Post scriptum beginnend.
Die 4,5,6 Seiten zuvor waren ziemlich unwichtig.
Alle Gesetze des Romanlesens ignorierend las ich zuerst das Post scriptum.
Vom Höhepunkt zum Vorspiel.
Kein einziges Mal las ich dort: Du Schlamper!
Nur :Love is all around you!
Drei Jahre lang schrieben wir uns Briefe, dann heirateten wir.
P.S.
Wir Männer sollten wissen, uns erträgt nur jemand, der uns wirklich liebt.
Noch ein P.S.
Wieso ich dies schreibe?
Weil ich gerade meine Scheune aufgeräumt habe und dort in einem Schrank drei Schuhkartons voll mit Liebesbriefen entdeckt habe.
43 Jahre lang versteckt.
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Aufgrund ihrer Lautgleichheit werden in China die Wörter Liebe und harmonische eheliche Verbundenheit mit dem Lotos in Verbindung gebracht; die Lotosblüte ist deshalb auch Sinnbild einer guten Ehe.