Tour de France am Mont Ventoux – there is no mountain too high

War er nun oben?

Klar, warum sollte er lügen!

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Nein, natürlich war er nicht oben.

Das hat er sich alles zusammengereimt.

Nie und nimmer kann man ihn als den Vater der Bergsteiger bezeichnen.

Quatsch nicht, sogar auf den Tag genau lässt sich die Geburtsstunde des Alpinismus rekonstruieren.

Der 26. April vor genau 680 Jahren.

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Und wer war jener besagte Alpinist?

Francesco Petrarca, geboren im Jahre 1304, bestieg seinen Angaben nach im Jahre 1336 den windigen Berg, den Mont Ventoux.

Allein aus dem Verlangen heraus, die Höhe dieses Berges kennenzulernen, den er doch wahrscheinlich schon jahrelang sichtbar vor seinen Augen hatte.

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Ein gewaltiger Steinklotz, der über Jahrhunderte als der Sitz der Götter von den Menschen gemieden wurde.

Bis dieser Petrarca, nach dem zufälligen Studium der römischen Geschichte im Livius auf jene Stelle gestoßen war, wo Philipp, der König von Makedonien, den Berg Hämus in Thessalien besteigt, von dessen Gipfel zwei Meere sichtbar sein sollen.

Vom Nur-Hochschauen hatte er jetzt endgültig genug.

Spontan entschloss er, am nächsten Tag mal schnell auch auf einen Berg zu klettern.

Was lag da näher, als sich diesen Giganten vorzunehmen, der sich ihm schon jahrelang ins Blickfeld drängte.

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Ein paar Worte und schon hatte er seinen jüngeren Bruder als Mit-Seilschafter gewonnen.

Da gabs nicht viel zu diskutieren.

Alle waren von dieser Idee begeistert und Petrarca selbst schreibt:

Der Tag war lang, die Luft mild, die Gemüter waren entschlossen, die Körper stark und geübt im Marschieren; nur die Natur des Ortes schuf uns Hindernisse.

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He, welche Hindernisse?

Sah der Berg vor 680 Jahren anders aus?

Noch in der gleichen Nacht, nachdem sie vom Gipfelsturm wieder zurück waren, schreibt er einen Brief an seinen Freund Francesco Dionigi, der uns heute vorliegt und seine Erstbesteigung beweist – oder auch nicht.
Das Ganze ist etwas unglaubwürdig, denn der Weg von Malaucene aus auf den Gipfel ist kein einfacher Spaziergang.

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Ein alter Schafhirte hatte noch versucht, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, vergebens.

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Forscherdrang und Lust am Erleben lässt sich nicht von den warnenden Worten eines einheimischen Schafhirten aufhalten.

Leistung und physische Verausgabung, messbare Erfolge, das Gefühl, als erster etwas vollbracht zu haben, all das sind Merkmale des Alpinismus.

Wenn wir davon ausgehen, dass er oben war, dann war es die Geburtsstunde des Alpinismus.

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Ich glaubs ihm.

Zum 680. Jahrestag der Erstbesteigung sozusagen war auch ich auf diesem windigen Berg.

Im September des Jahres 2016 und nicht mit meinem Bruder,sondern meiner Liebsten.

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Nur, wir hatten ein Auto bis zur Anreise nach Flassan.

Unsere Räder lauerten auf der Anhängerkupplung auf ihren Einsatz und die neuesten Outdoorklamotten im Reisekoffer versprachen uns Wetterunabhängigkeit.

Und ne Menge Müsliriegel hatten wir dabei.

Wir wollten ja bei unserer Erstbesteigung nicht plötzlich auf einem Ast sitzen.

So sagt man in Radlerkreisen, wenn einen unterwegs plötzlich die Kräfte verlassen.

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Bäume und damit auch Äste allerdings gibt es im Gipfelbereich des Mont Ventoux keine.

Eine einzige Schotterwüste, die aus der Ferne im gleißenden Sonnenlicht einen schneebedeckten Eindruck hinterlässt.

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Jedenfalls war er so – scheinbar schneebedeckt – nach der Abfahrt von der Rhonetal-Autobahn bereits sichtbar.

Eigentlich dachte ich in den folgenden zwei Wochen immer daran, dass er die gleiche Funktion wie ein Leuchtturm für uns hatte.

Hatten wir uns mal wieder auf einer der kleinen Straßen rund um  Carpentras, Bedoin, Malaucene, Methamis, Fontaine de Vaucluse oder Gordes verfahren, so war die Richtung zu unserem Hotel in Flasson leicht auszumachen.

Immer dem Weißen Berg nach.

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Das immense Kalkschotterfeld direkt unterhalb des Gipfels wurde erst durch die Rodung des Berges freigelegt.

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Wie anderenorts in der Provence hatte man den ehemals üppigen Baumbestand zum Bau der Seeflotten, aber auch für Brennholz und die Holzkohleherstellung gerodet.

Dass er aber den Beinamen der „Windige“ hatte, sollte uns bei den folgenden Radfahrten kräftezehrend bewusst werden.

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Aber wir hatten ja unseren Hotel-Pool, um die ermatteten Glieder wieder auf Vordermann zu bringen.

Und zur Obsession wollten wir das Radeln ja auch nicht werden lassen.

Wenngleich das in dieser Gegend kaum zu übersehen ist, dass Radfahren nicht nur eine Sache des Wollens ist.

Wollen, das ist zu wenig, Begehren erst führt dich zum Ziele“, sagte Ovid.

Und ich flüsterte es mir jeden Abend vor, wenn meinem Allerwertesten selbst das Sitzen im bequemen Hotelsessel keinen Spaß bereitete.

Genug gejammert, auch wenn ich jetzt die Leiden der Tour de France zumindest erahnen kann.

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In Bedoin starten alle Möchtegerntourer, um den Gipfel von Süden aus zu bezwingen.

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Dementsprechend bunt geht es in diesem typisch provencialischen Dörfchen zu.

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Leuchtend in allen Signalfarben die Radtrickots.

Früh übt sich, wer die Tour mal gewinnen will.

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Klackend das Geräusch der abgestiegenen Radler, wenn sie auf Ihren Klickschuhen versuchen, die nächstgelegene Bar beinahe schlitternd zu erreichen, um die gelungene Gipfelfahrt zu feiern.

Im Relais du Ventoux in Bedoin.

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Es sei ihnen gegönnt. Prost!

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Früher zu Zeiten von Hennie Kuiper, Jaques Anquetil, Gerrie Knetemann, Hinault, Thevenet, Agostinho, ja da hatte man sich vor dem Start zur Touretappe noch schnell in der Bar de l‘Observatoire in Bedoin getroffen, ein Käffchen getrunken, ein vergleichsweises harmloses Doping.

Noch ein bisschen gequatscht, einem aufdringlichen Reporter die letzten Fragen nach der Kondition, nach den Siegeschancen beantwortet.

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Es ist verbürgt, dass man auch einem Kognak vor Startbeginn nicht abgeneigt war.

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Und dass manche der Tour-Helden  noch etwas anderes schluckten, wurde durch den Tod des Tom Simpson bekannt, der etwas mehr als einen Kilometer vor der Zielankunft tot vom Rad fiel.

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1912 Meter hoch ist dieser Berg, das scheint nicht viel zu sein.

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Aber wer 22 Kilometer und 1600 Höhenmeter mit einer durchschnittlichen Steigung von 7 Prozent zurücklegen will, der braucht sich nicht wundern, dass das Radtraining in der Rheinebene nicht unbedingt die richtige Übungsform für dieses Vorhaben ist.

Zumal der Killeranstieg über einen Kilometer eine Steigung von 23 Prozent aufweist.

Aber dafür hatte ich ja in der Rheinebene geübt.

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Na ja, ich war noch nie so ein Kletterer, so ein Typ wie Eddy Merckx, dem man den Beinamen „der Kannibale“ verpasst hatte.

Gerade am Berg verspeiste er seine Rivalen.

Mein Muskeltonus ist nichts für starke Steigungen.

Mich macht schon der Anstieg auf den Michelsberg bei Bruchsal fertig.

Ich bin mehr ein Zeitfahrer.

Die Zeit spielt keine Rolle, nur Ankommen ist wichtig.

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Und bitte denkt an die Abfahrt.

22 Kilometer mit mehr als 10 Prozent Gefälle abwärts.

Glaubt ja nicht, dass das eine normale Felgenbremse aushält.

Und ungeübte Handgelenke schon mal gar nicht.

War ich nun oben?

Wie soll man in der heutigen Zeit eine solche Frage ehrlich beantworten?

Zu jeder Feststellung gibt es ja heutzutage alternative Fakten.

Aber, warum sollte ich lügen.

Natürlich war ich oben!

Aber, ich gebe es zu: Gedopt!

Pfui!

Natürlich habe ich mir keine chemische Substanz eingeworfen.

Natürlich habe ich bereits in der Heimat auf Blutdoping verzichtet.

Mein Entschluss zum technischen Doping fiel nach folgenden Überlegungen schon viele Tage vor der Radtour.

Gegen welche Kräfte der Physik würde ich bei diesem Unternehmen ankämpfen müssen?

Gegenwind, Beschleunigungswiderstand, Steigungswiderstand, Rollwiderstand und Reibungswiderstand.

Und dann noch schnell die geleistete Arbeit in Joule und die Leistung in Watt ausgerechnet.

Wenn wir all dies berücksichtigen, dann können wir ausrechnen, wie lange wir für den Aufstieg auf den Ventoux brauchen.

Und ob wir das überhaupt schaffen.

Das Gewicht meines Fahrrads plus mein Körpergewicht nicht zu vergessen.

Und die Vorstellung, dass ich jedes dieser Kilos 1600 Meter hoch schaffen muss.

Um es jedem Leser deutlich zu sagen:

Es ist diesselbe  Energie, die man braucht, um 1600 Kilogramm einen Meter hoch anzuheben.

Und mit Rad komme ich garantiert auf die 110 Kilogramm.

Tja, da hat sich schon mancher verhoben.

Und dennoch haben es immer welche geschafft.

Der Schnellste, er hieß Tim Krabbe, war in  einer Stunde und einundzwanzig Minuten oben.

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Hatte ich also mit Taschenrechnerunterstützung herausgefunden, dass mir 250 Watt zur Bezwingung des „Riesen der Provence“ fehlen würden.

Fehlende 250 Watt.

Lächerliche 250 Watt hätten mich wahrscheinlich auf halber Strecke „verhungern“ lassen.

Hätte ein stupides Kurbeln mich vielleicht bis zum Gedenkstein jenes Tourfahrers gebracht, der hier tot vom Rad fiel?

Gedopt vom Rad fiel.

Nein, dopen kam nicht in Frage.

Wer so eine Etappe am Mt.Ventoux gewinnen will, wer sich in die lange Liste der Ventoux-Bezwinger einreihen will, der stellt zuvor eine lange Liste zusammen.

Von Mitstreitern, von Tempomachern oder Tempoverzögerern, von vielen unbekannten Unterstützern.

Allein auf sich gestellt ist das nicht zu schaffen.

Auch nicht von Radprofis.

Vielfältige Hilfe ist nötig.

Ich aber habs mit nur einem einzigen Helferlein geschafft.

Der mir verlässlich jene berechneten fehlenden 250 Watt lieferte.

Mei Bosch-Elektromotörle.

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Buchtipp: “ Ventoux – ein Sommer, der das Fieber des Lebens in sich trug“ von Bert Wagendorp im Verlag btb

Den Text schrieb ich im Jahr 2016 unter meinem Erzählmotto:

Zum Bild’le a Gschicht’le.

2020 habe ich den Text überarbeitet, der nun wieder auf meiner Blogseite http://www.herberternstmayerle.com zu finden ist.

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